Samstag, 6. August 2016

Das Porträt

"Was haben Sie denn da?"
"Das wird die Mütze für den kleinen Moritz. Alle Mütter in meiner Familie stricken ein Mützchen für ihr erstes Kind. Und genau so sollen Sie das auch darstellen. Ich, schwanger, fürsorglich strickend." sagte Frau Weissenberger.
"Ah, ja. Nun denn. Aber schauen Sie doch bitte mehr nach oben und nicht so angestrengt. Also so geht das ja eigentlich nicht." Micki legte den Skizzenblock weg.
Die schwangere Frau hörte auf zu stricken. "Soll ich stillhalten?" Durch die zwei Nadeln vor dem Gesicht schaute sie ihn an.
"Nein, nein. Stricken Sie nur einfach weiter. Ich schaue mir das in aller Ruhe an, bis ich so ein Gefühl für die richtige Pose bekomme. Dann melde ich mich schon. Und dann fangen wir das ein. Machen Sie nur einfach weiter".
Die Frau strickte wieder.
Der Maler zündete sich eine Zigarette an.
"Also ich bin schwanger, da werden Sie doch nicht?"
"Die Halle ist doch groß genug." Er stand auf und entfernte sich ein paar Schritte. Den Qualm blies er in Richtung Fenster. "Sehen Sie das weht sofort heraus. Sie sind da nicht der erste Kunde mit Raucherproblemen. Ich muss nur nachdenken, in welcher Pose ich Sie abbilde. Dabei brauche ich unterschiedliche Winkel. Wir hatten ja ausgemacht, das sie mit einem Buch oder Fächer abgebildet werden. Mit Stricknadel muss das doch natürlich unterbrochen wirken. Oder soll ich Sie so konzentriert malen. Aber das sind Sie doch gar nicht."
"Ok" Die Frau schüttelte zwar den Kopf, aber dann strickte sie weiter. Nach ein paar Zügen befahl er: "Still! Nicht bewegen. Genau so bleiben Sie bitte!"
Der Maler drückte die Zigarette aus und sprang wieder an seinen Platz. "So sehen Sie perfekt aus. Das ist genau die Pose, die zu Ihnen passt."
Nach einer Stunde hatte er genügend Skizzen beisammen und seine Kundin ließ ihn alleine in der alten Halle.


Er machte sich nicht sofort an das Porträt, sondern kümmerte sich um ein riesiges Schachbrett mit seltsamen Büsten als Figuren. Es handelte sich um Karikaturen von Politikern. Er verschob diese und leuchtete sie mit einem Scheinwerfern an. Dann zündete er sich eine Zigarette an und betrachtete die Szene. Langsam ging er diese herum. An einer Stelle im Raum nickte er, blieb stehen und rauchte die Zigarette zu Ende. Genau aus dieser Perspektive fertigte er eine Skizze an. Danach baute er die Szenerie um und wiederholte die Prozedur, bis er drei Skizzen hatte. 
Hinten in einer Ecke der Halle war eine kleine Bühne, die er mit Schreibtisch und Computer ausgestattet hatte. Dort war auch ein Scanner mit dem er die Skizzen in den Rechner lud. Er bearbeitet diese ein wenig per Software, dann schaltete er einen Beamer an und projizierte die Strichzeichnung auf eine riesige Leinwand. Dort befanden sich schon einige Linien, die ein Gebäude darstellten. Darüber projizierte er die Skizze. Alle drei probierte er aus. Danach machte er erst eine Pause, bevor er sich für eine Skizze entschied. Diese malte er dann auf die Leinwand.
Diese Mischung aus Bildhauerei, Malerei und digitale Technik war sein Markenzeichen. So konnte er realistisch surreale Motive zu Leinwand bringen. Jedes Jahr musste er eines solcher Werke verkaufen um die Halle zu finanzieren.

Gegen sechs Uhr, als die Sonne schon unterging, machte er sich an das Porträt. Obwohl er auch hier mehrere Skizzen hatte, scannte er nur eine ein. Kurz bearbeitete er sie, dann wurde sie schon auf eine Leinwand projiziert. Er sinnierte dabei über den Weissenberger, der nach so langer Zeit sich offensichtlich fortpflanzte. Er selbst hatte sich ja geschworen in diese Welt keine Kinder zu setzen und eine Vasektomie vornehmen lassen. Der Sex war danach auch viel besser. Und es sollte sogar möglich sein, das wieder umzukehren. Sollte er da nicht einmal nachfragen? Bei all diesen Gedanken entstand tatsächlich so etwas wie der Umriss eines Bildes einer Frau, die etwas strickte.
Ein paar Schritte zurück und er schüttelte den Kopf. Er würde es wohl tatsächlich verkaufen können. Mit so wenig Aufwand konnte er also auch Geld verdienen. Es hatte etwas von Prostitution an sich. Es war ein Werk mit seinen Markenzeichen aber dann doch nicht seiner Seele. Seine Werke sollten eigentlich etwas sagen und zum Nachdenken anreizen, aber das hier, das war eine schwangere Frau, die etwas für ihr ungeborenes strickte. Wo war da eigentlich das Rebellische, das Revolutionäre? Er beschloss das nur einmal zu machen. Und zwar nur, weil er einem alten Bekannten aus längst vergessenen Zeiten einen Gefallen tun wollte. Nachdenklich ging er an dem Abend nach Hause.

Als er in das Wohnzimmer trat, war Carla schon auf der Couch. Es lief noch der Rest vom sonntäglichen Tatort. Sie hatte kein Weinglas auf dem Tisch, sondern trank Tee.
"Hallo Liebes, das war heute länger"
"Psst"
Anscheinend war gerade etwas Spannendes zu sehen. Kaum saß er, bemerkte er ihre Hände.
"Du strickst?"
"Das beruhigt und trainiert die Finger"
"Heute hatte ich eine Kundin, die strickte an einer Mütze für ihr Baby. Ich sollte sie als treusorgende, werdende Mutter darstellen. Das war vielleicht ein Feger. Die neue Frau vom Weissenberger. In dem Alter hat der noch einmal eine knapp dreißig jährige geheiratet und sofort geschwängert. Irgendwie hat er das mit dem Erben produzieren wohl nötig. Was machst Du denn?"
"Mütze. Aber bitte, ich will doch den Schluss noch sehen."
Er holte sich einen Whisky und sah mit seiner Gefährtin die letzten fünf Minuten des sonntäglichen Krimis. Kaum fing der Abspann ab, bohrte er nach: "Du bist aber nicht auch.. jedenfalls nicht von mir, das ginge ja gar nicht."
"Ach, wenn Du ....", sie schluckte.
"Ok. Natürlich mache ich das mit. Das mit dem Klammern und der Eifersucht haben wir doch nie gemacht. Und wenn Du Dir ein Baby machen lässt, dann ist mir das auch willkommen. Wir bleiben doch zusammen, oder?"
"Es ist nicht ...", sie kämpfte gegen Tränen.
"Du brauchst Dich nicht zu entscheiden. Wenn noch ein Mann für Dich zum herum machen einziehen sollte, wäre das auch kein Problem. Das Haus ist doch groß genug. Wir hatten doch sowieso vor ..."
Sie weinte. Er schaute sie an. Ihre Hände mit den Stricknadeln zitterten. Dann ließ sie die Nadeln los. Die rechte Hand schüttelte sich. Mit ihrer linken versuchte sie diese zu festzuhalten.
"Mein Gott. Scheiße" sagte er, als er sie im Arm hielt.

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