Freitag, 9. September 2016

Perfekt

Er prüfte seine Krawatte im Spiegel. Ihre blassrote Farbe betonte die kühle Bläue des Hemds. An dem Tag war der unangemeldete Besuch bei einem eventuellen Kunden angesagt. Ging sein verdammter Blutdruck wieder hoch? Kurz schüttelte er den Kopf. Dann trat er vom Spiegel zurück. Jedes Detail musste stimmen. Es galt ja immer noch, dass der erste Eindruck des Verkäufers zählt, oder etwa nicht? Wieder schaute er im Spiegel sein rotes Gesicht an. So ging das gar nicht! Gerade bei der Kaltakquise galt es Optimismus, Sicherheit und Kompetenz auszustrahlen und nicht wie ein schüchterner Schuljunge zu erscheinen. Das rote Gesicht galt es zu verstecken!
Es wäre doch gelacht, wenn ihm dazu nichts einfiele. Nur, was?
Ihm fiel das ganz rote Hemd von der Sozifeier ein. Schnell schlüpfte er aus dem blassen Blau und in das kräftige Rot. Als er sah, wie gut die Farbe der Krawatte dazu passte, grinste er. Bei dem Wetter konnte er ganz ohne Anzug gehen. Er beschloss einfach unten in blauen Jeans und oben im roten Hemd zu gehen. So konnte er als ein Ingenieur gehen, der eben mit Sachkenntnis berät.
Lachend betrachtete er seinen mutigen Aufzug im Spiegel und machte sich auf den Weg.
Vorher hielt er Kontakt zu einem Stammkunden. Er wollte sich nur ein gutes Gefühl abholen und vielleicht noch ein paar Informationen über den Potentialkunden erhalten.
"Später sollte ich vielleicht noch bei dem Weiner vorbeischauen. Vielleicht kann der ja auch von uns ..."
"Machst Du nun kalte Akquise? Deswegen der farbige Aufzug?"
"Der Mann von heute trägt einfach auch mal Farbe und nicht immer Anzug oder Holzfällerhemd. Und passt doch gut zusammen. Es ist genau der richtige Farbton. Hemd mit Krawatte ohne Sakko, das gibt etwas förmlich informelles. So will ich das. Das hat gar nichts mit der Akquise zu tun. Bei Dir bin ich damals doch auch einfach so hemdsärmelig aufgetaucht. Stimmt doch, oder?"
"Das war damals ja noch alles unbestellter Acker. Aber heute? Wie kommst Du überhaupt darauf, dass der Weiner? Da ist doch was bei Euch, oder?"
"Ach, wir haben da diese Beraterheinis bei uns gehabt und nun wird Druck gemacht. Stell Dir vor die machen das nun so, dass die jederzeit sehen können, wer wie viel verkauft hat. Zu jederzeit. Vormittags, Abends. Am Wochenende. Bei laufendem Verbrauchsmaterial und kleinen Orders würde das ja vielleicht noch Sinn machen. Aber bei den FX-2070 und anderen geht das doch gar nicht. Da habe ich dann immer ein sehr gutes Quartal und dann ein paar schlechte. In den schlechten Quartalen mache ich laut Controlling ja gar nichts."
"Und da hat man Dir dann den Weiner als 'zu Besuch mal' auf das Auge gedrückt."
Er nickte, machte diesen wohl trainierten Hundeblick und wartete. Beim Verkauf war warten das wichtigste!
"Na gut. Weil Du es bist. Schau da am besten nach dem Mittagessen vorbei. Wenn Du Glück hast, triffst Du den Junior. Erkennst Du sofort. Der könnte für seine neuen Ideen eure Sachen gebrauchen."

Zu Mittag aß er ein wenig außerhalb. Es war ein Landgasthof mit Aussicht. Am Fenster saß er alleine mit dem Tagesgericht, als er das Paar neben ihm diskutieren hörte.
"Was sind wohl Brägele? Scheint irgendwie die lokale Beilage zu sein."
"Spätzle? Bestimmt haben die das auch mit Fritten."
Da musste er sich einmischen: "Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen raten dürfte". Das Paar schaute sich um. "Die Brägele sind so etwas wie Bratkartoffeln. Zuerst werden die Kartoffeln gekocht, dann in Scheiben geschnitten und auf kleiner Flamme gebraten. Entscheidend ist dabei das Fett!" An dieser Stelle hob er den Finger und seine Zuhörer folgten andächtig. "Öl oder Margarine geht gar nicht. Manche nehmen Butter oder Butterschmalz, was schon gut wäre, wenn die nicht eine recht hohe Temperatur erfordern würden. Und dann verbrennen die Ränder der Kartoffelscheiben. Deswegen ist tierisches Schmalz das ideale Fett für Bratkartoffeln. Und hier in dieser Gaststätte verwenden die ihr eigenes Schweineschmalz. Das kommt von dem Schwein, das auch das Fleisch geliefert hat. So gute Brägele wie hier bekommen Sie sonst nirgends. Ich kann Ihnen die nur empfehlen."
Das Paar beherzigte seine Empfehlung. Er gratulierte sich zu dieser überaus erfolgreichen Vorbereitung auf seinen großen Auftritt.

Er parkte das Auto auf dem Besucherparkplatz. Mit seiner kleinen Ledertasche, die ihn seit Beginn seiner Verkäuferlaufbahn begleitete, lief er auf den Eingang der Werkshalle zu. Sein Schritt war optimistisch. Von weitem sah er schon den Stahlträger, der von einem Umbau übrig geblieben schien. Der Weg führte darunter durch. Es war genau in der richtigen Höhe und, ehe er sich versah, musste er seine Ledertasche an die Wand der Halle lehnen und nach oben springen, um sich an den Träger aufzuhängen. Er konnte mal richtig Klimmzüge machen! Damals, als die Äcker noch nicht bestellt waren, konnte er das. Kaum hing er, war ihm sein Gewicht bewusst. Ihm musste etwas einfallen. Er wackelte ein wenig nach links und rechts, ließ sich fallen und beugte sich nach vorne. Danach beugte er sich kurz nach links, nach rechts. Schließlich drückte er seinen Rücken nach hinten. Seine Hände in die Seiten gestemmt, schaute er mit dem Kopf geradewegs nach oben.
Dann nahm er seine Tasche und ging weiter. Wenn schon Kinderei, dann sollte es wenigstens nach einer sinnvollen aussehen, dachte er sich zufrieden. Anstatt einen beleibten Mann, der sich in Klimmzügen versucht, war hier eben einer, der seinen Rücken von der langen Autofahrt entlastet.

"Die einzelnen Komponenten der FX-Serie sind immer auf den Seiten mit einer roten Ecke oben rechts" erklärte er dem jungen Weiner, "so finden Sie sie ..."
Sein Gegenüber schüttelte ganz leicht den Kopf. Es war kaum zu bemerken, aber ihm entging es nicht.
" ok.... Ich markiere das gerne für Sie." Wie selbstverständlich zückte er ein kleines Heft mit gelben Haftetiketten aus seiner Tasche. Während er eine Seite nach der anderen markierte, erklärte: "Viele haben ja eine rot-grün Schwäche und deswegen sind ja auch die Ampeln, aber wem sag ich das. Wir sollten vielleicht doch besser so kleine Symbole oben an den Ecken vorsehen. Als der vier-Farbdruck noch teuer war, war das auch so. Aber nun ... So da sind nun alle Stellen markiert."








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