Samstag, 29. Oktober 2016

Geschnitten

Mit ihr hatte er gar nicht gerechnet. Diese Frau war das, wie immer, unerwartete Sahnestückchen, das der Tüchtige verdient hat.
Er setzte sich aufrecht hin, als sie fragte: "Ist hier noch frei".
"Aber sicher doch!", antwortete er ohne in irgendeiner Weise zu Lächeln oder sonstiges Interesse zu zeigen.
Die Müdigkeit des frühen Aufstehens war verflogen. Sollten die Fahrten mit dem Frühzug, die die nächsten sechs Wochen zu bewältigen waren, doch interessanter werden als gedacht?
Mit einem schlichten "Danke" nahm sie Platz. Ein freundliches Lächeln hätte sie sowieso nicht erwidert. Richtige Frauen reagieren da sowieso nicht drauf. Ein kurzer Blick kam trotzdem, dann widmete sie sich den Unterlagen, die sie aus ihrer Tasche holte.
Der Blick sagte ihm, dass ein klein wenig Interesse vorhanden sein könnte. In seiner Ecke machte er sich ein klein wenig breiter. Den rechten Arm lehnte er an das Fensterbrett, die Beine breitete er aus. Ein Mann muss als solcher zunächst Gelände sichern, das war schon im Neanderthal so. Er überlegte, wie er einen ersten Punkt setzen könnte. Etwas, an das er gegebenenfalls am nächsten Morgen anknüpfen konnte.
Als er sah, welche Unterlagen sie las, stutzte er ein wenig, dann grinste er wieder.
Es waren anscheinend Unterlagen, die sich auf seine Ausbildung bezogen! Welch ein Glück, dachte er. Anstatt junger zwanzigjähriger Frischlinge, war da auch eine richtige Frau in der Meute. Also eine Frau, die, obwohl es um Rechnerarchitekturen ging, auch so aussah, als wenn sie eine richtige Frau wäre. Die Frauen, die normalerweise so etwas studieren, waren ja eigentlich eher jungenhaft gestrickt. Obwohl ihm fiel da ganz flüchtig, die Blonde von damals ein. Die war auch nicht schlecht.
Er hätte ja auch damit rechnen können. Vermutlich lag es an den langweiligen Kollegen und der Erwartungshaltung, die sein "das muss ich nun durchziehen" mit der Weiterbildung, die dazu geführt hatte, dass er solch eine Gelegenheit gar nicht erwartet hatte. Dann wäre er auch eleganter angezogen.
Seine Augen fuhren über ihre langen, welligen Haare. So weiche Haare und auch genau in der richtigen Länge mit der Locke nach innen. In einem Dirndl oder mit einem Bikini, müsste das wunderbar aussehen. Das samtene Schwarz kombinierte so gut mit der Blässe ihrer Haut. Aber was dachte er da? Aktion war angesagt.

"Das ist doch ein Skript über Rechnerarchitekturen, denke ich, oder?", mehr viel ihm nicht ein. Es war schon ganz schön doof, einfach so jemanden anzusprechen.
"Ja. Genau. Ich wollte es noch in Ruhe studieren", sagte sie deutlich. Sie schloss mit einem Lächeln, das ihre weißen Zähne zeigte. An den Augenwinkeln zeigte sie Lachfältchen. Bestimmt hatte sie nur keine Zeit sich mit ihm zu unterhalten. Das war ja auch kein Problem immerhin würden sie ja die nächsten Wochen miteinander jeden Morgen in der gleichen S-Bahn zum ZAN fahren.

"Ich gehe da auch hin. Solch ein Schein fehlt mir noch, dann habe ich auch einen Bachelor in Informatik und kann dann, gewissermaßen als Quereinsteiger einen Master nachmachen. Ich bin nämlich Maschinenbauingenieur und mache das neben dem Beruf", kurz holte er Luft und dann kam die Weiterleitung: " Vielleicht sehen wir uns ja?", mit der Aufforderung zu antworten.
"Da bin mir ganz sicher", sagte sie bestimmte, lächelte kurz und las dann, ein klein wenig schmunzelnd, weiter.

Er spürte die Röte seiner Backen. Das lief irgendwie schon anders als erwartet. Wie er fortsetzen sollte, wusste er nicht. So schaute er ihr zu, wie sie eine Seite nach der anderen studierte. Er sollte ihr vielleicht doch ein Kompliment machen, nahm er sich vor. Etwas Schönes zu sagen, war immer gut. Was sollte es sein? Etwas zu ihrem Äußeren war bei manchen Frauen immer gut, nur sie war eine Kommilitonin! Wenn er nun sagen würde, wie gut sie als Kommilitonin aussähe, war das ein Kompliment? Oder würde es mehr wirken, als würde sie gut aussehen nur im Vergleich zu den üblichen Informatikstudentinnen, die, wie alle wissen, ja nie so gut aussehen. Aber das wäre dann auch wieder bestimmt nicht gut. Eine Frau, die mit Intelligenz gesegnet war, wollte als solche doch auch intelligent wahrgenommen werden. Gerade in einem Fach, das ja fasst ausschließlich von Männern ausgeübt wird.

"Das ist aber seltsam", entfuhr ihm, dann doch.
"Bitte?"
"In Informatik eine Frau, das habe ich gar nicht", ihm wurde klar, dass das ziemlich daneben war. Ein Scherz fiel ihm aber nicht ein. Warum eigentlich nicht? 
Sie sah ihn seltsam streng an. Ihre Mundwinkel pressten sich zusammen. 
"Es freut mich halt, dass Du da auch", warum zuckte eigentlich ihr Mund?, "auch in der Vorlesung bist." Die Wahrheit war doch immer am Besten. Er war halt ein Mann und konnte nicht anders.
"Schön!", sagte sie, schüttelte den Kopf und las weiter.

Sie stiegen gemeinsam aus. Er wollte neben ihr gehen, aber sie ging dann doch ein wenig schneller. Hinterherlaufen wollte er nicht. In der Vorlesung würden sie sich ja doch wiedersehen. Zeit war ja auch noch. Der Frühzug bot eine Viertelstunde zum Frühstücken. So kaufte er beim Bäcker Brezel und Milchshake, dann schlenderte zum Zentrum für angewandte Naturwissenschaften, in dem die Vorlesung stattfand.

Mit einer ganzen Meute junger Männer wartete er bis der Raum aufgeschlossen wurde. Sie war gar nicht zu sehen.
Es gab auch junge Frauen, die die Vorlesung belegten. Sie sahen auch tatsächlich so aus. Die Zeiten haben sich wohl doch in den zehn Jahren geändert!
Er nahm am Fenster Platz und aß seine Brezel. Dazu trank er einen Milchshake. Den Block hatte er vor sich. Warum hatte sie eigentlich Unterlagen, die noch gar nicht verteilt wurden? Hatte er etwas verpasst? Er schaute sich die anderen Bänke an. Aber auch die anderen Kommilitonen hatten keine. Alle saßen mit Block und Stift auf ihren Plätzen und warteten. Wo blieb sie eigentlich?

Als letztes kam sie herein! 
Sie schloss die Tür, ging nach vorne und stellte sich vor: "Dann begrüße ich Sie mal zur Vorlesung 'Rechnerarchitekturen für 15-Bitrechner'".

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