Freitag, 20. Januar 2017

Der Haken

Ratsch, machte es und er lag auf dem Boden. Es war klar, dass auch das schief ging. Aber vielleicht war die Schlinge ja fest genug. Es wurde schwarz. Er schluchzte, als er die Augen wieder öffnete. Die Tränen flossen nur so aus seinen Augen. Traurig war er nicht. Warum nur flossen diese Tränen? Die Decke war hohl. Wie dumm von ihm das Seil an dem Haken der Wohnzimmerlampe zu binden. Deswegen flossen die Tränen nicht. Da war er sich ganz sicher. Auch der Gedanke an seiner Dummheit waren nicht der Grund der Tränen. Von ihm getrennt waren Tränen. Er selbst wusste, dass er nun in den Baumarkt gehen musste, um einen dicken Haken zu kaufen. Einen Haken, den er in den Balken schrauben konnte. Einen Haken, der sein Gewicht würde halten können. Dann, genau dann, hätte das hier alles ein Ende. Der Gedanke an das Ende erzeugte in ihm kein Gefühl von Befreiung, sondern ging einher mit einem nachlassenden Tränenfluss.
Zu Fuß ging es zum Baumarkt. Lässig ging er seinen Weg. Die Einfamilienhäuser mit ihren schönen Gärten und Hecken würdigte er keinen Blick. Den Blick auf die Betonplatten gerichtet, setzte er langsam einen Fuß vor den anderen. Wer ihn beobachtet hätte, hätte einfach nur einen alten Mann gesehen, der sich die Zeit mit einem Spaziergang vertrieb. Aber ihn beachtete ja keiner. Auch die drei jungen Männer in der Unterführung bei der S-Bahn beachteten ihn nicht. Zu seiner Zeit hätte sie ihn bestimmt angehalten und etwas gesagt. Mindestens ein "Was guckst Du?" wäre gefallen. Aber so näherte er sich der Gruppe. Der mittlere machte einfach einen Schritt zur Seite und er ging hindurch, ohne aufzublicken. Wie ein Zombie schritt er hindurch. So mag sich ein Hund fühlen, wenn er alleine herumläuft, dachte er. Der Gedanke erzeugte weder Druck noch Trauer, sondern einfach nur eine grimmige Zustimmung.

Bei den Schrauben, Dübeln und Haken erinnerte er an längst vergessenen Zeiten. "Schrauben" und "Dübeln" war damals die Beschäftigung am Wochenende. Ja! Damals! Zusammen wurden die Dübel geraucht und zusammen die Mädchen geschraubt. Sein erstes Mal fiel ihm wieder ein. Er war der dritte bei dieser, wie hieß die noch? War ja eigentlich auch egal. Jedenfalls hatte er damals ganz schön lange gebraucht. Obwohl so zugedröhnt war das auch egal. An dieser Stelle lächelte es in ihm. Nüchtern nahm er wahr, dass in einem Baumarkt vor dem Regal mit "Schrauben" und "Dübel" es ihn aufheitert, sich an längst vergessene Abenteuer zu erinnern. 
Es galt einen Haken zu finden, der zu dem Strick passte! Etwa so dick musste der sein, bedeutete er dem Mädchen in dem orangenem Hemd, das ihm helfen wollte. In einen Balken aus Holz wollte er ihn schrauben und etwa 100 Kg sollte daran aufgehangen werden. Da Mädchen wies ihm das Fach in dem Regal. Er fand nichts an ihr im entferntesten attraktiv. Sie war wohl froh, sich wieder zu entfernen.
Sollte er den langen Haken nehmen? Das war ganz schön viel zum hereindrehen. Sein Blick fiel auf die Frau bei den Teppichböden. Sie grüßte und winkte in seine Richtung. Wollte sie etwas von ihm? Da kam hinter ihm schon eine Freundin und hastete zu ihr. Er sah sie nur von hinten. Ihre Haare waren so ähnlich wie diese Lena, die er mit ihm teilte. Ihm! Der letzte seiner Kumpels. Der musste dann auf Vater machen und mit dieser Lena zusammen leben. An dieser Stelle fühlte er kleinen Schmerz auf der linken Seite. Bis in den Mittelfinger zog sich eine Art Krampf. Dann griff er zu. Es war der lange Haken, der tief einzuschrauben war.

Mit dem Hammer nagelte er den Haken ein wenig ein, dann drehte er ihn. Anfangs ging es leicht. Durch das Fenster konnte er in die Wohnung auf der anderen Seite es Innenhofs sehen. Diesmal war jemand dort. Sie hatte nichts an. Lange, schwarze Haare hatte sie und streckte sich. Er drehte an dem Haken. Sie öffnete das Fenster und schaute herunter. Dann ließ sich der Haken nicht mehr so leicht drehen. Das Gewinde wurde dicker, der Widerstand im Holz stärker. 
Mit einem Schraubenzieher, den er in den Haken steckte, hatte er einen Hebel, mit dem er den Haken tiefer eindrehen konnte. Noch einmal sollte er den Haken nicht wieder herausreißen. 

Als er fertig war, schaute er noch einmal aus dem Fenster. Die Frau mit den langen, schwarzen Haaren war nicht zu sehen. Hätte sie ihn aufhalten können? 
Bei dem Gedanken schüttelte er den Kopf. In seinem Alter war das auch vollkommen egal. Vielleicht hätte er die Vorhänge vorgezogen. Aber so brauchte er das nicht. Das Seil knotete er an dem Haken fest. Dann prüfte er, ob das diesmal Sinn machen würde.
Der Haken hielt sein Gewicht.

Nun galt es eine Schlinge zu machen. Sie musste sich zuziehen und durfte auch nicht doch noch aufgehen. Der erste Versuch ging schief. Mit dem Hammer probierte er aus, wie sie sich zuzog. Das klappte, aber dann, als er sich an dem Griff hängte, löste sich der Knoten und er hatte den Hammer in der Hand. Erleichtert, dass er das nicht mit seinem Hals ausprobiert hatte, verbesserte er den Knoten, bis er sich an den Griff des Hammers hängen konnte. 

Nun galt es also. Er zog die Schlinge auf. Seinen Kopf steckte er noch nicht hinein. Offen ließ er sie hängen. Er ging zum Fenster und schaute hinaus. Die Frau gegenüber war nicht am Fenster und auch nicht auf dem Balkon.

Erst, als er den Kopf in der Schlinge hatte, kam sie auf den Balkon. Sie hatte einen Bademantel an und lehnte sich an die Wand neben der Balkontür. Ihr Becken streckte sie nach vorne. Den linken Fuß hob sie hoch und presste in gegen die Wand. So gab ihr Bademantel den Blick auf das nackte, linke Knie frei. Es war weiß. Der rote Bademantel und das weiße Knie wurde so von der Sonne angestrahlt, dass er einfach ein Foto machen musste. 
Er drehte sich um, der Stuhl fiel um und dann zog sich die Schlinge zusammen. Seine Hände griffen in die Schlinge und hielten dagegen. Mit aufgerissenen Augen sah er hinüber. Die Frau zündete eine Zigarette und schien herüber zu blicken. Seine Hände drückten die Adern zu seinem Gehirn ab. Ihm wurde schwarz.

Wie schön sich die Sonne in dem Fenster spiegelt, dachte sie.

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